Wir wollten Bahnfahren. An der Körnerstraße schob ich den Kinderwagen in Richtung Aufzug. In meinem peripheren Blick bemerkte ich einen Mann, der über die Straße kam, blass, hager, ganz in Schwarz gekleidet. Ein ungesunder Eindruck, den er Anhieb auf mich machte. Dann blieb er auch noch direkt vorm Fahrstuhl stehen und drückte den Knopf.
„Na toll!“, dachte ich mir. Sofort schossen mir negative Gedanken in den Kopf. Ich musste daran denken, wie Maria mir von einer Begegnung in Neukölln erzählt hatte, wo ein offensichtlich drogenabhängiger Mann, Leo einen blutigen Teddybären in den Kinderwagen gedrückt hatte, als sie mit ihm im Aufzug fuhren. War dieser Mann hier wohlmöglich auch ein Junkie? Vielleicht war er krank, könnte uns mit irgendetwas anstecken, wenn wir gemeinsam in der Fahrkabine fuhren. Spuckepartikel, Aerosole, Krankheitsatem. Da warte ich doch lieber und lasse ihn vorfahren. Ist eh nicht genug Platz im Fahrstuhl.
Doch als sich die Fahrstuhltüren öffneten, war mehr als genug Platz für den Mann, unseren Kinderwagen und uns. Also schob ich den Wagen widerwillig hinein.
Noch bevor die Türen sich hinter uns schlossen, hörte ich auf einmal die fröhliche Stimme meines Sohnes: „Hallo!“ sagte er vergnügt und strahlte den Mann dabei an. Dieser schien genauso verdutzt wie ich. Doch schnell erhellte sich seine eingefallene Miene.
„Hallo!“, erwiderte er und etwas wie ein Lächeln huschte über sein Gesicht, als er zu meinem Sohn in den Wagen blickte. Der staunte jauchzend über die für ihn spannende Aufzugfahrt runter zur U-Bahnstation und knabberte dabei unbesorgt an seinem Schokocroissant. „Und schmeckt’s“, fragte der Mann ihn und der kleine rief: „Ja, lecker!“.
Eine einfache, unschuldige Fahrstuhlkonversation, frei von jeglichem Urteil. Total entwaffnend, für mich eher beschämend. Mein Sohn schafft es binnen Sekunden die Regeln der Menschlichkeit umzusetzen, respektvoll einen Mitmenschen zu grüßen – ich nicht.
Mein Sohn stellt den Menschen, der ein paar Sekunden mit uns in einem Raum verbringt nicht automatisch auf eine niedrigere Stufe. Mein Verhalten hingegen – unterste Schublade.
Ich rege mich auf über die Ungerechtigkeiten der Welt, teile Social Media Posts, die zu mehr Menschlichkeit aufrufen und halte mich in vielen Dinge für eine dieser Gutmenschen. Aber das ist doch alles nur Fassade, wenn ich mein*en Nächst*e nicht mit dem nötigen Respekt behandeln kann.
Es beginnt eben doch bei mir, bei uns, bei jeder*jedem Einzelner*m von uns. Und es beginnt im Kopf, in unseren Gedanken mit den Urteilen und Kategorien, die wir tagtäglich vielfach ganz unbewusst fällen und einsortieren.
Gut und Böse. Besser und schlechter. Und immer sind es wir selber, die auf der Sonnenseite stehen – oder eben auf der Seite der Opfer. Die Dualität der Welt, die immer weiter aufklafft und uns mehr und mehr voneinander entfernt. Divide et impera. Teile und herrsche.
Dabei ist das alles nur Illusion. Hinter all dem ich und du, wir und die, steckt das große Ganze. Wir sind all-ein. Alle eins. Ein System, dass nur gemeinsam funktioniert.
Ich denke an einen der vielen weisen Lebensratschläge zurück, die ich während meiner Yogaausbildung erhalten durfte. „put a guard in front of your thoughts. Observe, don’t judge“. Und so möchte auch ich mich nicht verurteilen für meine Gedanken diesem Mann gegenüber. Aber ich möchte mir ein Beispiel nehmen an meinem Kind.